German Board of Orthodontics manövriert sich ins wissenschaftliche Niemandsland

In angelsächsischen Ländern bestehen an bestimmte Facharztrichtungen gebundene „Boards“, z.B. das American Board of Orthodontics. Diese geben Fachärzten die Möglichkeit, sich über Ihre Fachanerkennung hinaus mit einer Prüfung weiter zu qualifizieren und damit hohes fachliches Niveau zu demonstrieren. Das „German Board of Orthodontics“ (GBO) wurde nach diesem Vorbild 1998 als Verein gegründet. Träger des Vereins waren zu gleichen Teilen die wissenschaftliche Fachgesellschaft der deutschen Kieferorthopäden, die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) und die Lobbyorganisation der Kieferorthopäden, der Berufsverband der deutschen Kieferorthopäden (BDK). „Seine Mitglieder verpflichten sich zum Erlernen, der Ausübung und Weiterentwicklung einer qualitativ hochwertigen Kieferorthopädie. Der Verein versteht sich als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Praxis…“ so wird auf der Website des GBO verheißungsvoll angekündigt. Die Realität ist aber eine andere, wie sich auf dem 20. Jahreskongress des GBO am 17. und 18. April 2015 in Bonn zeigte.

Liest man die offizielle Pressemitteilung der Veranstalter aufmerksam, so scheint die gesamte Veranstaltung weniger der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, als der Verteidigung historisch überlebter Behandlungskonzepte und der Pflege altdeutscher fachlicher Traditionen gedient zu haben. So ist es seit Jahrzehnten in der internationalen Kieferorthopädie Goldstandard, mit der Behandlung heranwachsender Patienten erst nach Abschluss des Zahnwechsels zu beginnen, und diese Behandlung in aller Regel mit einer einzigen festsitzenden Apparatur durchzuführen. Dieses Konzept führt zu kurzen Behandlungszeiten von 1-2 Jahren, ist mit geringen Belastungen für die Patienten, hoher Ergebnisqualität und nicht zuletzt mit guter Wirtschaftlichkeit verbunden. Der gesamte GBO-Kongress stand dagegen unter dem Zeichen der sogenannten „Frühbehandlung“ – kurz gesagt, der Idee, heranwachsende Patienten bereits ab dem Vorschulalter mit meist herausnehmbaren Apparaten zu traktieren. So behauptete die Referentin Korbmacher-Steiner, dass „bei 5-7jährigen die besten Chancen oft verpasst“ seien. Wie zu erwarten wurden zum Beleg dieser abenteuerlichen These, die durch keinerlei Studiendaten belegt werden konnte, nur geschickt ausgesuchte Einzelbeispiele dargebracht. Dagegen wurde kürzlich eine hochwertige Übersichtsarbeit publiziert, in der festgestellt wurde, dass es in der gesamten wissenschaftlichen Literatur kaum Belege für den Nutzen kieferorthopädischer Behandlung vor dem Alter von 11 Jahren gäbe – diese Aussage stützt sich allerdings auf eine systematische Recherche der gesamten wissenschaftlichen Fachliteratur und nicht auf einige willkürliche Fallbeispiele 1. Die Diskrepanz zwischen den Altersangaben für kieferorthopädische Behandlung – beim GBO soll es womöglich im Vorschulalter beginnen, in der wissenschaftlichen Literatur ab 11 Jahren – ist ebenso markant wie die folgenden Merkwürdigkeiten.

Die nächste Referentin Kahl-Nieke schlug in die selbe Kerbe und fragte das Auditorium rhetorisch „wir sollen also anfangen, wenn alles zu spät ist?“. Wie ihre Vorrednerin illustrierte sie ihr Plädoyer für die Behandlung von Kindern im Milch- und Wechselgebiss mit gezielt gewählten Fallbeispielen. In der harten Realität zeitigen früher Behandlungsbeginn ebenso wie die auf dem GBO-Kongress propagierten herausnehmbaren Apparate überlange Behandlungszeiten, hohe Belastungen für die Patienten, hohe Abbruchquoten und im internationalen Vergleich schlechte Ergebnisse 2. Darauf folgte Referentin Stellzig-Eisenhauer mit einem Versuch, das Konzept der sogenannten „Funktionskieferorthopädie“ in die Moderne zu retten. Während in der wissenschaftlichen Literatur heute unstrittig ist, dass mit „funktionskieferorthopädischen“ Apparaten keinerlei klinisch relevante skelettale Effekte erzielt werden können 3, wird in Deutschland – und nur hier – weiter an der Legende von einem besonderen Mehrnutzen dieser historischen Therapieform gestrickt. So auch unsere Referentin, die nicht nur eine Lanze für den Einsatz der – beim GBO scheinbar hochaktuellen – aktiven Platte brach, sondern mit selektierten Fallbeispielen den Einsatz von FKO-Geräten in der Frühbehandlung untermauerte. Der international übliche Behandlungsbeginn im frühen bleibenden Gebiss würde „sehr viele Traumen und bedrückende Folgen“ zeitigen – eine abenteuerliche Aussage, für deren Beleg keine Daten präsentiert wurden.

Die Diskrepanz zwischen den in der internationalen Fachliteratur publizierten Daten und den hier vorgetragenen Konzepten könnte kaum drastischer ausfallen. So verwundert es nicht, dass Referent Männchen in einem weiteren Pro-Frühbehandlungs-Referat schließlich zum Gegenangriff auf die Wissenschaft überging und forderte, mit den hochwertigsten wissenschaftlichen Studien, den randomisierten, kontrollierten Studien (RCTs) in der Kieferorthopädie „endlich Schluss“ zu machen. Kieferorthopädie, insinuierte er, sei so individuell, da ginge randomisiert „gar nichts“. Ganz im Gegensatz zu Männchens Forderung sind seit 1995 zunehmend RCTs in der Kieferorthopädie durchgeführt worden – in der Regel berichten zwischen 30 und 50 Publikationen jährlich über derartige Studien. Kein anderes Studiendesign hat unser Wissen derartig erweitert wie die RCTs. Diesen Studien u.a. ist zu verdanken, dass Frühbehandlung heute international eine Rarität geworden ist, und dass die sogenannte „Funktionskieferorthopädie“ als eine orthodontische Technik unter vielen eingeordnet wurde, die keinen besonderen Mehrnutzen aufweist 4, 5. Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, dass zu der Aussage, man solle von den RCTs „endlich weg“ kommen, im offiziellen Protokoll des GBO-Kongresses „anhaltender Beifall der anwesenden Praktiker und Wissenschaftler“ notiert wird. Es ist für viele Mediziner eben schwer erträglich, wenn ihre Lieblingsverfahren keine Unterstützung durch wissenschaftliche Studien erhalten, und nur zu leicht flieht der beleidigte Kliniker in den Schmollwinkel. Tatsächlich ist eine „individuelle“ Reaktion auf äußere Einwirkung kennzeichnend für die gesamte biologische und biomedizinische Forschung. Deshalb gleich den Sinn wissenschaftlichen Arbeitens in der Medizin in Frage zu stellen ist nicht nur bodenlos naiv, sondern würde auch die Überflüssigkeit von universitärer Forschung und Lehre nach sich ziehen. Wer also die Arbeit der früheren Bader und Zahnbrecher, die rein empirisch vorgingen, für „besser“ hält als die eines universitär ausgebildeten Zahnarztes, liegt mit solchen Theorien genau richtig! Um so bemerkenswerter ist, dass alle drei zitierten Referentinnen Hochschullehrerinnen und Leiterinnen von kieferorthopädischen Universitätsabteilungen sind, was nur als Offenbarungseid der deutschen Kieferorthopädie gedeutet werden kann. Es gibt nur noch eine Chance, der vollkommenen internationalen Blamage zu entgehen: es darf niemand im Ausland erfahren, was da in Bonn verbreitet wurde. Da das GBO international keine Rolle spielt, stehen die Aussichten dafür zumindestens recht gut.

Wie kann eine, wenn auch kleine Gruppe von 100 Kieferorthopäden so weltvergessen sein? Aus gutem Grund streben die besten Köpfe der Kieferorthopädie international nach solider Basierung unseres Fachs mit wissenschaftlichen Daten. Evidenzbasierte Medizin hat auch in der Kieferorthopädie Einzug gehalten und ist in den meisten nationalen Fachgesellschaften selbstverständlicher Standard geworden. Perspektivisch kann man davon ausgehen, dass Kostenträger aus gutem Grund langfristig nur noch medizinische Verfahren erstatten werden, die evidenzbasiert sind. Zu diesem Zeitpunkt die besten wissenschaftlichen Daten – diejenigen, die aus RCTs gewonnen wurden – zu ignorieren, stattdessen eine auf persönlichen Meinungen und geschickt selektierten Fallbeispielen aufbauende Medizin zu propagieren, heißt den Rückweg in die eminenzbasierte Medizin antreten. Dann sagen bei uns eben wieder große Meister, was richtig und falsch ist, und publizierte Daten sind nur etwas für die Amerikaner und die Briten. Ganz bestimmt wird dies nicht ohne Schaden für betroffene Patienten bleiben, denen moderne, effiziente Behandlungsverfahren zu Gunsten von alten Bräuchen vorenthalten werden.

Bei seiner Zeitreise in die Romantik ist dem kleinen Häuflein des GBO, das nicht einmal 2% der deutschen Kieferorthopäden repräsentiert, viel Vergnügen zu wünschen. Wissensdurstigen Kollegen ist jedoch von einer Mitgliedschaft abzuraten, und als eine zusätzliche Qualifikation wird man die Mitgliedschaft in diesem Verein der Öffentlichkeit kaum mehr verkaufen können. Liebe Kollegen im GBO: zu empfehlen ist entweder 180° Kursänderung oder Auflösung des Vereins, der in dieser Form einzig der Pflege altdeutscher Tradition und persönlicher Eitelkeit dient. So wird weder „eine qualitativ hochwertige Kieferorthopädie“ begründet noch „ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und Praxis“ hergestellt. Schluss damit!

  1. Sunnak R, Johal A, Fleming PS. Is orthodontics prior to 11 years of age evidence-based? A systematic review and meta-analysis. J Dent 2015;43(5):477-86.
  2. Madsen H. Evidenzbasierte Medizin in der Kieferorthopädie. Quintessenz 2008;59:977-84.
  3. Koretsi V, Zymperdikas VF, Papageorgiou SN, Papadopoulos MA. Treatment effects of removable functional appliances in patients with Class II malocclusion: a systematic review and meta-analysis. Eur J Orthod 2015;37(4):418-34.
  4. Tulloch JF, Proffit WR, Phillips C. Outcomes in a 2-phase randomized clinical trial of early Class II treatment. Am J Orthod Dentofacial Orthop 2004;125(6):657-67.
  5. King GJ, McGorray SP, Wheeler TT, Dolce C, Taylor M. Comparison of peer assessment ratings (PAR) from 1-phase and 2-phase treatment protocols for Class II malocclusions. Am J Orthod Dentofacial Orthop 2003;123(5):489-96.

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