Die Handröntgenaufnahme in der Kieferorthopädie ist obsolet

Handröntgenaufnahme: in der Kieferorthopädie ohne Nutzen
Handröntgenaufnahme: in der Kieferorthopädie ohne Nutzen

Zu den zahlreichen Röntgenaufnahmen in der Kieferorthopädie gehört erstaunlicherweise auch die Aufnahme der Hand. Generationen von Kieferorthopäden glaubten, mit dieser Aufnahme den Zeitpunkt des sogenannten Wachstumsspurts in der Pubertät und das Kieferwachstum vorhersagen zu können. Mit dieser Vorhersage sollte dann die kieferorthopädische Behandlung zu einem idealen Zeitpunkt geplant werden, was zu kürzerer Behandlung und besseren Ergebnissen führen sollte. Das wäre natürlich zu begrüßen, aber stimmen diese landläufigen Vorstellungen?

Die britische kieferorthopädische Fachgesellschaft British Orthodontic Society (BOS) gibt seit vielen Jahren ausführliche Richtlinien für das Röntgen in der Kieferorthopädie heraus, die im Jahr 2016 bereits in der 5. Auflage gedruckt und im Web vorliegen 1. Die britischen Richtlinien sind die ausführlichste wissenschaftliche Stellungnahme zum Röntgen in der Kieferorthopädie, stellen eine herausragende Pionierarbeit dar und werden weltweit respektvoll zur Kenntnis genommen. Die Handröntgenaufnahme wird in diesem 30-seitigen Werk nur mit zwei Zeilen bedacht, die lauten: „The use of hand wrist radiographs to predict growth spurts has been shown not to be sufficiently accurate to be of value.“ (Der Einsatz der Handröntgenaufnahme zur Vorhersage des Wachsumsspurts erwies sich als nicht hinreichend genau um von Wert zu sein.) Die Handröntgenaufnahme hat daher nach Auffassung der BOS nur „limited clinical application“, also begrenzte klinische Anwendung.

Typisch britisch wird dies nicht nur gesagt, sondern mit drei diagnostischen Studien belegt 2-4. In diesen konnte keine hinreichende Vorhersagegenauigkeit des Handröntgens bestätigt werden. So wenig wie zur Vorhersage des Wachstumsspurts taugt die Handröntgenaufnahme leider auch zur Vorhersage des Kieferwachstums, wie in einer weiteren Studie festgestellt wurde 5. Eine hinreichende Genauigkeit ist aber die Voraussetzung für den Einsatz jedes diagnostischen Mittels. Fehlt diese, so ist das diagnostische Mittel nicht valide, d.h. es kann für den beabsichtigten Zweck keinen Nutzen bringen und sollte auch nicht eingesetzt werden. Der Handröntgenaufnahme fehlt nicht nur die Validität, sondern sie belastet die Patienten auch noch mit potentiell Krebs auslösender Röntgenstrahlung.

Es ist vor diesem Hintergrund schon erstaunlich, dass im Jahr 2016 eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) zur Handröntgenaufnahme in der Kieferorthopädie erschien, die nahezu das Gegenteil aussagt 6.

Die Frage der Validität der Handröntgenaufnahme wird in dieser Stellungnahme gar nicht erst diskutiert, sondern stillschweigend vorausgesetzt. Um so großzügiger wird dafür geschildert, bei welchen Diagnosen eine Handröntgenaufnahme hilfreich wäre, zu denen die Stellungnahme den Rückbiss, Vorbiss und Seitbiss des Unterkiefers, den tiefen Biss, den skelettal offenen Biss und sogar die Dysgnathiechirurgie gezählt werden. Oder wie in der DGKFO-Stellungnahme so unpräzise und ausdehnbar formuliert wird: „bei skelettalen Schädel- und Gebissfehlbildungen, welche unter Ausnutzung von Wachstumsprozessen korrigiert werden sollen und daher ein Wachstum voraussetzen“, was leider bei kieferorthopädischen Behandlungen Heranwachsender sehr häufig der Fall ist. Dies ist um so merkwürdiger, als dass in Deutschland ohnehin ein früher Behandlungsbeginn weit vor dem pubertären Wachstumsschub die Regel ist. Bei derartig frühem Behandlungsbeginn wäre die Handröntgenaufnahme aber nicht einmal dann hilfreich, wenn sie einen guten Vorhersagewert hätte.

Schließlich wird diese Röntgenaufnahme von der DGKFO sogar zur Einschätzung des restlichen Wachstums nach Abschluss der kieferorthopädischen Behandlung empfohlen. Diese überaus großzügige Empfehlung einer Röntgenaufnahme, der es an Validität fehlt, durch eine wissenschaftliche Fachgesellschaft ist nicht evidenzbasiert und sollte dringend überarbeitet werden. Glücklicherweise scheinen die meisten Kieferorthopäden diesen Empfehlungen ohnehin nicht zu folgen: so ergaben Abrechnungsdaten der KZV Nordrhein, dass die Handröntgenaufnahme im Vergleich zur Panoramaschichtaufnahme und dem Ceph zur Rarität geworden ist. Es scheint also in der realen Kieferorthopädie ganz gut ohne Handröntgen zu gehen. In Deutschland kann es nichtsdestotrotz bis heute durchaus passieren, dass ein Gutachter nachträglich einen Kieferorthopäden zur Anfertigung einer Handröntgenaufnahme zu zwingen versucht, nachdem dieser für die Behandlungsplanung auf diese Aufnahme verzichtet hat. Hier gilt es standhaft zu bleiben: unnötige Röntgenaufnahmen sind strafbare Körperverletzung!

Tip für Eltern und Patienten: die Anfertigung einer Handröntgenaufnahme kategorisch verweigern, wenn kein klarer und eindeutiger Mehrnutzen nachgewiesen werden kann.

Die Richtlinien der BOS können hier kostenlos heruntergeladen werden: www.bos.org.uk
Die Stellungnahme der DGKFO kann hier kostenlos heruntergeladen werden: www.dgkfo-vorstand.de/

  1. Isaacson KG, Thom AR, Atack NE, Horner K, Whaites E. Guidelines for the use of radiographs in clinical orthodontics. London: British Society of Orthodontics; 2015.
  2. Houston WJ, Miller JC, Tanner JM. Prediction of the timing of the adolescent growth spurt from ossification events in hand-wrist films. Br J Orthod 1979;6:145-152.
  3. Flores-Mir C, Nebbe B, Major PW. Use of skeletal maturation based on hand-wrist radiographic analysis as a predictor of facial growth: a systematic review. Angle Orthod 2004;74:118-124.
  4. Mellion ZJ, Behrents RG, Johnston LE, Jr. The pattern of facial skeletal growth and its relationship to various common indexes of maturation. Am J Orthod Dentofacial Orthop 2013;143:845-854.
  5. Verma D, Peltomaki T, Jager A. Predicting vertical growth of the mandibular ramus via hand-wrist radiographs. J Orofac Orthop 2012;73:215-224.
  6. Proff P, Kirschneck C. Indikation von Handskelettaufnahmen im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung. Regensburg: Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie; 2016.

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