Überversorgung in der deutschen Kieferorthopädie

Im Jahr 2022 wurden die Ergebnisse der DMS-6-Studie zur Mundgesundheit in Deutschland veröffentlicht. Zur Kieferorthopädie wurden dafür 705 8-9-jährige Kinder an 16 verschiedenen Orten nach den Kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) untersucht. Die KIG regeln seit 2002, mit welchen Befunden Heranwachsende in der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) Anspruch auf Übernahme der Behandlungskosten kieferorthopädischer Behandlungen haben. Dabei gibt es fünf Bedarfsgrade: Grad 1 und 2 sind gering ausgeprägte Befunde, deren Behandlung nicht übernommen wird, während die Grade 3-5 ausgeprägter sind und einen Leistungsanspruch an die GKV auslösen. Wie in einer früheren Untersuchung (Glasl et al. 2006) wurde dabei die KIG-Grade 3-5 bei etwas über 40% der Kinder festgestellt. Davon entfielen 10% auf Grad 3, 25,5% auf Grad 4 und 5% auf Grad 5. Zu den Ergebnissen erschien am 23.09.2022 eine gemeinsame Presseinformation der Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV), der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) und des Instituts der deutschen Zahnärzte (IDZ), das die DMS-6-Studie durchgeführt hat. In dieser Presseinformation werden die im Rahmen der DMS-6-Studie festgestellten Bedarfsgrade umstandslos und völlig willkürlich als Befunde interpretiert, die „aus medizinischen Gründen eine Behandlung erforderlich“ (Grad 3), „dringend erforderlich“ (Grad 4) oder gar „unbedingt erforderlich“ (Grad 5) machten. Derartige Interpretationen sind wissenschaftlich jedoch nicht belegbar. Sind die kritischen Stimmen z. B. des HTA-Berichts des DIMDI von 2008 schon ganz vergessen, bei denen keine Verbesserung der Mundgesundheit durch kieferorthopädische Behandlung festgestellt wurde? Hat nicht sogar der Bundesrechnungshof im Jahr 2018 Intransparenz und fehlenden Nutzennachweis im Bereich der deutschen Kieferorthopädie beklagt? Hat nicht das vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene IGES-Gutachten von 2019 erneut den gesundheitlichen Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen in Frage gestellt? Vor diesem Hintergrund Bedarfsgrade als zwingende, medizinische Gründe für kieferorthopädische Behandlungen zu verkaufen, ist schlicht unredlich. Weiterhin wird in der Presseinformation für die 57% der Kinder mit Bedarfsgrad KIG 2 und gering ausgeprägten Befunden ausgeführt, dass diese „durchaus eine Indikation für eine kieferorthopädische Behandlung darstellen“ können. Die Zahlen werden dann wie folgt zusammengefasst: „Der Anteil der Studienteilnehmenden, bei denen aus medizinischen und GKV-Gründen eine kieferorthopädische Behandlung grundsätzlich angezeigt sein kann, lag somit bei insgesamt 97,5 %“. Halleluja, damit sollten also doch fast 100% jeden Jahrgangs sich einer kieferorthopädischen Behandlung unterziehen!

Die KZBV, BZÄK und DGKFO täuschen die Öffentlichkeit

So sehr die Ausführungen der gemeinsamen Presseinformation zum kieferorthopädischen Behandlungsbedarf damit ins Lächerliche abgleiten, so falsch ist der aus den DMS-6-Daten abgeleitete Schluss, dass im Bereich der Kieferorthopädie keine Überversorgung bestünde. Tatsächlich ist der Versorgungsgrad mit kieferorthopädischer Behandlung allein im Bereich der GKV keineswegs bei 40%, wie es nach den DMS-6 Daten angemessen wäre, sondern bei über 60%. Dieser Versorgungsgrad lässt sich leicht aus öffentlich zugänglichen Daten errechnen. Zum einen gibt die Stärke der Geburtsjahrgänge 10-12 Jahre vor dem zu prüfenden Behandlungsjahr an, wie viele Heranwachsende im typischen kieferorthopädischen Behandlungsalter präsent sind. Zum anderen ist im Statistischen Jahrbuch der KZBV nachzulesen, wie viele kieferorthopädische Behandlungspläne jährlich im Rahmen der GKV abgerechnet werden. So weist das statische Jahrbuch der KZBV 2022 für das Vorjahr 2021 die Zahl von 433.500 kieferorthopädischen Behandlungsplänen (Ziffer 5 des BEMA) aus. Die Jahrgangsstärke der Jahrgänge 2010-2012, die hier vorwiegend in kieferorthopädische Behandlung kommen, lag im Durchschnitt bei 671.400 (Quelle: www.statista.com). Da etwa 10% der Bevölkerung privat versichert sind, müssen von dieser Zahl die privat versicherten Kinder abgezogen werden. In erster Näherung ziehen wir hier 5% ab und kommen auf 637.450 gesetzlich versicherte Kinder pro Jahrgang. Bei 433.500 Behandlungsplänen ergäbe sich für das Jahr 2021 ein Versorgungsgrad von 68%. Ein oder zwei Prozentpunkte wären dabei noch abzuziehen für diejenigen Heranwachsenden, die zweimal kieferorthopädisch behandelt werden – mit einer Frühbehandlung und einer Hauptbehandlung – wie auch für die kleine Zahl erwachsener Patienten, die im Rahmen der GKV kieferorthopädisch behandelt werden. Zweifelsfrei liegt der kieferorthopädische Versorgungsgrad im Rahmen der deutschen GKV bei über 60% jeden Jahrgangs. Dieser Versorgungsgrad besteht mit kleinen Schwankungen seit Jahrzehnten. Der Sachverständigenrat der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (SVR) stellte in einem Statement zur kieferorthopädischen Behandlung in Deutschland schon im Jahr 2001 fest: „Die Behandlung von Jugendlichen mit kieferorthopädischen Maßnahmen überschreitet in der GKV mit über 60 % alle internationalen Normwerte, die zwischen 12,5 % und 45 % liegen. Diese Rate übertrifft sogar den subjektiven Behandlungswunsch der Jugendlichen“. Im Vergleich lag der Versorgungsgrad in Dänemark bei 29%, in Schweden bei 30%, in Norwegen bei 35% und in Finnland bei 25-50% – wobei zu bedenken ist, dass alle genannten nordischen Länder über ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als Deutschland wie auch über ein gut entwickeltes Gesundheitswesen einschließlich der Kieferorthopädie verfügen.

Verwechslung von Bedarfsgrad mit medizinischer Notwendigkeit

Faktisch besteht im Bereich der deutschen GKV seit Jahrzehnten eine groteske Überversorgung mit kieferorthopädischer Behandlung. Dieser Sachverhalt wird von den Spitzenverbänden der deutschen Zahnmedizin und der DGKFO nicht nur geleugnet, sondern mit Verweis auf die DMS-6-Studie als widerlegt bezeichnet. Die Ergebnisse der DMS-6-Studie beschränken sich jedoch auf Fragen des Bedarfsgrades, während Art und Umfang der tatsächlich stattfindenden kieferorthopädischen Behandlung wie auch der faktische Versorgungsgrad gar nicht Gegenstand der Studie waren. Die DMS-6-Studie trägt damit zur seit Jahrzehnten eingeforderten kieferorthopädischen Versorgungsforschung wenig bei. Fragen der Über- oder Unterversorgung können mit diesem Studiendesign nicht beantwortet werden. Nichtsdestotrotz insinuiert die Presseinformation der zahnärztlichen Spitzenverbände vom 23.09.2022, dass das eine Überversorgung durch die DMS-6-Studie ausgeschlossen worden sei – eine Aussage, die aus den Daten gar nicht geschlossen werden kann. Die DMS-6-Daten geben auch nichts zur Frage her, ob Bedarfsgrad gleichzeitig eine medizinische Behandlungsnotwendigkeit bedeute, während in der Presseinformation wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass dieser Zusammenhang zweifelsfrei gegeben sei. Nur eine ironische Fußnote ist dabei, dass die Autoren der DMS-6-Studie sogar meinten, eine deutliche Unterversorgung mit kieferorthopädischer Frühbehandlung feststellen zu können: so bestünde bei 16,8% der untersuchten 8-9jährigen eine Indikation für eine kieferorthopädische Frühbehandlung zu Lasten der GKV, während aus Abrechnungsdaten der KZBV nur eine Frühbehandlungsrate von 7,8% in dieser Altersgruppe ableiten ließ. Noch einmal muss darauf hingewiesen werden, dass Bedarfsgrade zur Feststellung eines Leistungsanspruchs an eine Krankenversicherung keinen medizinischen Behandlungsbedarf begründen können. Medizinischer Behandlungsbedarf kann allein mit epidemiologischen Studien und Versorgungsstudien erhoben werden, deren Fragestellungen der gesundheitliche Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen wie auch mögliche Schäden bei Nichtbehandlung sind. Keine dieser Fragen kann mit den DMS-6-Daten beantwortet werden, so dass all dahingehenden Interpretationen unseriös sind. So wird es jedenfalls nichts mit einer wissenschaftlichen Fundierung für die deutsche Kieferorthopädie, liebe Kollegen, dafür bedarf es anderer Studienformate und einer gewissen Ernsthaftigkeit. Eine Kultur der gewagten Behauptungen und der ungedeckten Schlussfolgerungen wird uns in der Kieferorthopädie keinen Schritt weiter bringen!  

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