Kieferorthopädie und Gesundheit – unehrliche Werbung für kieferorthopädische Behandlungen

Die wenigsten kieferorthopädischen Befunde sind Krankheiten – präzise gilt der Krankheitsbegriff sogar nur für die Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Tatsächlich sind die meisten kieferorthopädischen Befunde als Abweichungen von einem Ideal ohne Krankheitswert einzuordnen. Häufig wird von Kieferorthopäden aber angegeben, dass kieferorthopädische Abweichungen mittelbar verschiedene andere Krankheiten verursachen würden. Wir haben zwei Suchen im Internet durchgeführt, um festzustellen, was Kieferorthopäden über die gesundheitliche Bedeutung der kieferorthopädischen Behandlung behaupten – und werden diese Aussagen mit dem Stand der Wissenschaft abgleichen. Im August 2014 wurde in Google das Stichwort „Kieferorthopäde Berlin“ eingegeben und die ersten 20 Einträge von Praxen untersucht. Das gleiche Vorgehen wurde im April 2017 für Frankfurt/Main wiederholt.

Wie Kieferorthopäden den gesundheitlichen Nutzen der Kieferorthopädie darstellen

Bei beiden Suchen zeigte sich, dass 80% der Praxen mit gesundheitlichem Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen im Sinne einer Krankheitsvorbeugung werben. Die Kieferorthopäden in Berlin nannten als erstes die craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) (9x), Parodontitis (8x), Karies, orthopädische Erkrankungen (je 7x), Magen/Darmerkrankungen (4x), Sprachstörungen (3x), Atmungsstörungen (2x) und Tinnitus/Vertigo (1x). In Frankfurt wurde ebenfalls am häufigsten die Vorbeugung der CMD (12x) genannt, gefolgt von orthopädischen Erkrankungen (11x), Parodontitis (7x), Karies, Sprachstörungen (je 5x), Atmungsstörungen, psychische Erkrankungen (je 4x), Kopfschmerzen (3x), Tinnitus und Magen/Darmerkrankungen (je 2x). Bis zu7 solcher Nennungen fanden sich auf einer Website. Damit wird deutlich, dass die große Mehrheit der Kieferorthopäden in Deutschland massiv mit gesundheitlichen Wirkungen der kieferorthopädischen Behandlung wirbt. Es stellt sich die Frage, woher wir eigentlich wissen, ob es solche gesundheitlichen Wirkungen gibt. Dafür gibt es zum Glück die Möglichkeit, in medizinischen Datenbanken wie Pubmed nach wissenschaftlichen Studien zu suchen, die über solche Zusammenhänge Auskunft geben. Wir werden den Zusammenhang zwischen Kieferorthopädie und den meistgenannten Erkrankungen im Licht der veröffentlichten epidemiologischen Studien diskutieren (Epidemiologie = Teilgebiet der Medizin, deren Gegenstand die Verbreitung, Ursachen und Folgen von Erkrankungen ist).

Kein relevanter Zusammenhang zwischen Zahnstellung und CMD

Es finden sich zahllose Studien zu Risikofaktoren für CMD, deren wichtigste weibliches Geschlecht und reproduktives Alter sind, gefolgt von diversen psychischen Störungen. Die Zahnstellung spielt als Risikofaktor für CMD eine untergeordnete Rolle, so dass Forscher der Universität Greifswald aus ihre umfangreichen Daten schlossen, dass gerade 13% der CMD-Symptome mit zahnbezogenen Faktoren korrelieren würden – 87% der CMD-Symptome also andere Ursachen haben müssten. In mehreren systematischen Reviews wurde seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts festgestellt, dass kieferorthopädische Behandlung weder zur Vorbeugung noch zur Heilung von CMD geeignet sei; umgekehrt aber auch, dass kieferorthopädische Behandlung kein Risikofaktor für CMD wäre. Immerhin – jedoch wird damit deutlich, dass die Behauptungen deutscher Kieferorthopäden zur CMD-vorbeugenden Wirkung kieferorthopädischer Behandlungen schlicht falsch sind.

Michelotti A, Iodice G. The role of orthodontics in temporomandibular disorders. Journal of Oral Rehabilitation 2010 37; 411–429

Kein Zusammenhang zwischen Zahnstellung und Karies

Unter den zahlreichen epidemiologischen Studien über Karies gibt es keine einzige, die einen relevanten Zusammenhang zu kieferorthopädischen Befunden nachweist. Karies wird vor allem durch eine Kombination von zuckerhaltiger Ernährung und ungenügender Zahnpflege verursacht, während lokale Faktoren im Einzelfall eine kleine Rolle spielen mögen, über die gesamte Bevölkerung aber nicht von Bedeutung sind. Kariesprophylaxe macht man also am besten mit vernünftiger Ernährung, Zahnbürste und Zahnseide, aber nicht mit Zahnspangen. Die Behauptungen vieler Kieferorthopäden zur Kariesreduktion durch kieferorthopädische Behandlung sind also unzutreffend.

Parodontitis wird nicht von schiefen Zähnen verursacht

Das selbe gilt auch für die Parodontitis. Auch wenn es plausibel klingt, dass schiefe Zähne schlecht zu reinigen sind und damit Parodontitis begünstigt wird, lässt sich ein Nutzeffekt kieferorthopädischer Behandlungen auf Parodontalerkrankungen nicht nachweisen. In einer bis heute nicht übertroffenen systematischen Übersichtsarbeit schlossen die Autoren, dass kieferorthopädische Behandlung sogar zu einer leichten parodontalen Verschlechterung führt, während sich ein prophylaktischer Nutzen nicht nachweisen ließ. Es ist doch erstaunlich, dass zahlreiche deutsche Kieferorthopäden solche Arbeiten einfach ignorieren und in unehrlicher Weise das Gegenteil behaupten.

Bollen AM1, Cunha-Cruz J, Bakko DW, Huang GJ, Hujoel PP.The effects of orthodontic therapy on periodontal health: a systematic review of controlled evidence. J Am Dent Assoc. 2008 Apr;139(4):413-22.

Kein Zusammenhang zu orthopädischen Erkrankungen

Einheitlicher Befund nahezu aller epidemiologischen Studien ist, dass kein oder nur ein geringer Zusammenhang zwischen Zahnstellung und CMD besteht. Das selbe gilt wenig überraschend auch für den Zusammenhang zwischen Zahnstellung auf der einen, Körperhaltung und orthopädischen Erkrankungen auf der anderen Seite. Solche Zusammenhänge werden zwar gerne behauptet, jedoch finden sich dafür in epidemiologischen Studien, erst recht in Therapiestudien, keine Belege. Vor diesem Hintergrund taugt kieferorthopädische Behandlung ebensowenig zur CMD-Therapie wie zur Therapie orthopädischer Erkrankungen. Die diesbezüglichen Behauptungen vieler Kieferorthopäden über orthopädische Wirkung kieferorthopädischer Behandlung sind also schlicht falsch.

Manfredini D et al. Dental occlusion, body posture and temporomandibular disorders: where we are now and where we are heading. Journal of Oral Rehabilitation 2012 39; 463–471

Zahnstellung verursacht keine Magen/Darmerkrankungen

Es lässt sich wohl nachweisen, dass die Kaueffizienz ideal verzahnter Menschen besser ist, als die von Menschen mit ausgeprägten kieferorthopädischen Befunden. Für solche Studien werden meistens Silikonkörper unter Zeitmessung zerkaut, ausgespuckt und anschließend die Teilchengröße gemessen. Nichtsdestotrotz konnte ein Zusammenhang von Zahnstellung, kieferorthopädischer Behandlung zu Magen-Darmerkrankungen nie nachgewiesen werden, ja nicht einmal zum Körpergewicht. Das verwundert nicht, da in modernen Gesellschaften fast nur aufbereitete Nahrung konsumiert wird, die keine hohe Kauleistung erfordert. Die Behauptung zahlreicher Kieferorthopäden, mit kieferorthopädischer Behandlung gastrointestinalen Erkrankungen vorzubeugen, erweist sich also als falsch.

Kieferorthopädie und Atmung

Es gibt eine kieferorthopädische Prozedur, die nachweislich die Nasenatmung verbessert: die Gaumennahterweiterung (GNE). Mit der GNE wird der Oberkiefer knöchern verbreitert, wodurch die Nasengänge erweitert werden und der nasale Atemwiderstand sinkt. Mit der GNE wurden zahlreiche gesundheitlich Verbesserungen beschrieben, die von diversen Ohrsymptomen bis zum Bettnässen reichen. Die meisten dieser Verbesserungen lassen sich auf verbesserte Atmung und verbesserte Tubenbelüftung zurückführen. Unklar ist vielfach, ob solche Effekte nur kurzfristig oder bleibend eintreten. Nichtsdestotrotz könnte der Einsatz der GNE in Zukunft einmal eine gewisse Anerkennung aus medizinischer Sicht finden, nicht jedoch der Einsatz der von deutschen Kieferorthopäden meist bevorzugten Dehnplatten.

Ebenso wurde in einigen Studien eine leichte Verbesserung des Rachenatemwegs nach Behandlung mit so genannten funktionskieferorthopädischen Apparaten gefunden. In anderen derartigen Studien konnte jedoch keine Verbesserung der Atemwege gefunden werden. Der Gewinn ist in jedem Fall gering und es ist unwahrscheinlich, dass er über lange Zeit erhalten bleibt. Vor diesem Hintergrund sollten Kieferorthopäden nicht als Atemtherapeuten auftreten, auch wenn die Zukunft noch einen atembezogenen Nutzen der einen oder anderen kieferorthopädischen Therapieform erweisen mag.

Zahnstellung, Kieferorthopädie und Kopfschmerzen

Es sind zahlreiche verschiedene Kopfschmerzdiagnosen beschrieben, von denen die bekanntesten der Spannungskopfschmerz und die Migräne sind. Ein zahnstellungsbedingter Kopfschmerz ist darunter nicht zu finden. Abweichende Zahn- und Kieferstellungen gehören auch nicht zu den üblicherweise angenommenen ursächlichen Faktoren, so dass die Behauptung von Kieferorthopäden, mit kieferorthopädischer Behandlung Kopfschmerzen vorzubeugen oder zu heilen unehrlich ist.

Kieferorthopädische Behandlung und Tinnitus/Vertigo

Tinnitus und Vertigo (Drehschwindel) sind Symptome des Innenohrs und damit einer anatomisch und funktionell vom Zahn- und Kieferbereich getrennten Region. Durch die zahlreichen Verschaltungen von Nervenbahnen im Kopf/Halsbereich kann z.B. überstarke Aktivität der Kaumuskulatur in einzelnen Fällen solche Symptome verstärken. Die primäre Ursache von Innenohrsymptomen können solche Muskelaktivitäten dagegen nicht sein. Aus diesem Grund ist es auch unehrlich, den an Tinnitus oder Vertigo leidenden und oft verzweifelten Patienten falsche Hoffnungen zu machen, durch kieferorthopädische Behandlung eine Heilung zu erreichen. Eine unspezifische Beeinflussung durch die Entspannung der Kaumuskulatur – für die es allerdings keine kieferorthopädische Behandlung braucht – ist denkbar. In Studien bei Kindern wurde gezeigt, dass einige Ohrsymptome nach Einsatz der Gaumennahterweiterung positiv beeinflusst werden konnten, was vermutlich auf verbesserte Tubenbelüftung zurückzuführen ist. Alle weiter gehenden Versprechungen von Kieferorthopäden zu Tinntitus und Vertigo sind jedoch einfach unehrlich.

 Kieferorthopädie und Sprache

In diesem Gebiet sind kaum aussagekräftige Studien, sondern überwiegend Fallberichte und Meinungsartikel zu finden. Es wäre durchaus plausibel, dass extreme Abweichungen der Frontzahnstellung einen Einfluss auf die Sprache haben. Viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass funktionelle Störungen der Zunge und der Mundmuskulatur negative Folgen für die Zahnstellung haben. Insofern könnte kieferorthopädische Behandlung in solchen Fällen ein Baustein im Therapiekonzept sein. Da die Beweislage äußerst schlecht ist, sollten Kieferorthopäden es jedoch besser unterlassen, kieferorthopädische Behandlungen als essentiell für eine gute Sprachentwicklung darzustellen.

Zahnstellung, Kieferorthopädie und Psyche

In den letzten Jahren konnte in einigen Studien gezeigt werden, dass kieferorthopädische Behandlung bei jungen Patienten zumindest vorübergehend das Wohlbefinden verbessert und das Selbstwertgefühl stärkt. Diese Effekte sind moderat und es ist nicht klar, ob die Verbesserung vorübergehend oder anhaltend sind. Offensichtlich ist auch, dass Kinder, die wegen extremer Zahnstellungsabweichungen von Altersgenossen gehänselt werden, sehr darunter leiden und deshalb von kieferorthopädischer Behandlung profitieren. Dies ist allerdings keine Grundlage, um kieferorthopädische Behandlungen generell als Prophylaxe psychischer Erkrankungen anzupreisen.

Der Hauptnutzen kieferorthopädischer Behandlung ist die ästhetische Verbesserung

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass zwei der prominentesten schwedischen Kieferorthopäden in einem Übersichtsartikel feststellten, dass der medizinische Nutzen der Kieferorthopädie gering sei, der Hauptnutzen dagegen ästhetischer Natur. Die Autoren empfahlen deshalb, mit dem Behandlungsbeginn bis zur Pubertät abzuwarten, weil erst zu diesem Zeitpunkt ein Bewusstsein von dentaler Ästhetik entsteht und deshalb erst dann eine aufgeklärte Einwilligung in die kieferorthopädische Behandlung erfolgen kann. (Mohlin B, Kurol J.To what extent do deviations from an ideal occlusion constitute a health risk? Swed Dent J. 2003;27(1):1-10)

Ein renommierter amerikanischer Kieferorthopäde führte aus, dass der Großteil der kieferorthopädischen Behandlungen gar keine Therapie von Erkrankungen, sondern vielmehr eine Verbesserung (enhancement) von Körperzuständen sei. Er forderte rigoros, dass die Kieferorthopäden sich von dem medizinischen Propagieren ihrer Behandlungen lösen sollten (Ackerman MB. Selling orthodontic need: innocent business decision or guilty pleasure? J Med Ethics 2010;36:275-278).

„Medizinische“ Vermarktung kieferorthopädischer Behandlung ist unehrlich

Zusammenfassend dürfen wir feststellen, dass die Werbung von 80% der deutschen Kieferorthopäden über medizinische Wirkungen kieferorthopädischer Behandlung unzutreffend und irreführend ist. Möglicherweise hängt die aggressive Werbung für die Kieferorthopädie mit der in Deutschland im internationalen Vergleich ungewöhnlich hohen Versorgungsdichte mit kieferorthopädischen Leistungen zusammen. Während in Großbritannien das Verhältnis Kieferorthopäde zu Bevölkerung bei 1:48.000, und selbst in den reichen skandinavischen Ländern bei 1:30.000 liegt, ist diese Zahl in Deutschland bei 1:20.000 – dazu kommen noch etliche kieferorthopädisch tätige Zahnärzte. Die zahllosen Leistungsanbieter müssen schließlich alle leben, und davon wird die Darstellung der Kieferorthopädie in der Öffentlichkeit bestimmt. Hier erweist es sich als Fehler, dass der Staat sich völlig aus der Regelung des Angebots zurückgezogen hat. Gab es bis 2001 noch regional festgelegte Höchstzahlen für Zahnärzte und Kieferorthopäden, blieb seitdem angebotsseitig alles dem freien Markt überlassen.

Unsere Patienten und auch deren Eltern sollten sich von der Werbung der Kieferorthopäden nicht täuschen lassen: kieferorthopädische Behandlungen sind fast durchwegs reine Wahlbehandlungen für Menschen mit Wunsch nach Verbesserung der Zahnstellung, aber kein medizinisches Pflichtprogramm. Wir bieten in unserer kieferorthopädischen Praxis in Mannheim daher auch eine faire Beratung ohne falsche Versprechungen über allgemeinmedizinische Wirkungen unserer Behandlungen an.

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