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Lexikon

Hier finden Sie Erklärungen zu vielen Stichwörtern aus dem Bereich der Kieferorthopädie.

Bionator – eine überschätzte Zahnspange

Der Bionator nach Wilhelm Balters, entwickelt in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, wurde im Jahr 1964 erstmals publiziert. Er ist nichts weiter als ein etwas verkleinerter Aktivator, also eine herausnehmbare Zahnspange, die beide Kiefer umfasst (Doppelspange) und der Bisskorrektur dienen soll.

Der Bionator hat genau das selbe Wirkungsspektrum wie der Aktivator. Er ähnelt dem Aktivator so stark, dass nicht einmal von einer eigenständigen Zahnspange gesprochen werden kann, sondern bestenfalls von einer Aktivator-Modifikation. Sucht man im Archiv des American Journal of Orthodontics, der wichtigsten kieferorthopädischen Fachzeitschrift der Welt, nach „Bionator“, wird man deshalb an das Schlagwort „aktivatorartige Apparaturen“ (activator-like appliances) weiter verwiesen.

Nur geringe Verbesserungen möglich

Hergestellt wird der Bionator wie alle so genannten „funktionskieferorthopädischen“ Apparate mit einem Konstruktionsbiss, bei dem der Unterkiefer weit nach vorne geschoben ist. Nur beim seltener benutzten Bionator für den Vorbiss des Unterkiefers wird der Unterkiefer im Konstruktionsbiss etwas nach hinten verschoben. Balters nannte den Konstruktionsbiss übrigens „Funktionsbiss“, was aber das selbe meint und nichts Neues zur Sache beiträgt. Trägt man den fertigen Bionator im Mund, muss der Unterkiefer bei jedem Zusammenbiss nach vorne geschoben werden, was bei ausreichender Tragezeit kleine Zahnbewegungen und mit Glück eine leichte Beschleunigung des Unterkieferwachstums bewirkt.

Keine Wunderwirkungen

Der Bionator ist ausschließlich an den Zähnen verankert, so dass er besonders starke dentale Wirkung hat, also einfach die Zähne durch den Kieferknochen kippt. Aus diesem Grund ist vom Bionator auch um so weniger skelettale Wirkung zu erwarten. Das bedeutet, dass eine nennenswerte Beeinflussung des Wachstums des Gesichtsschädels mit dem Bionator nicht möglich ist – was allerdings für alle „funktionskieferorthopädischen“ Doppelspangen gilt. Leider hängt an dieser leicht verkleinerten Aktivatorversion wegen ihres Namens (Bionator kann am besten mit „Lebenserwecker“ übersetzt werden) der Glaube, zahlreiche Wunderwirkungen zu haben, für die jedoch niemals in klinischen Studien Beweise gefunden wurden.

bionator
Original-Bionator aus den goldenen Jahren der „Funktionskieferorthopädie“: Man beachte die kühnen Drahtschlaufen, denen Balters allerlei magische Wirkungen zuschrieb.

Keine Nachweisbarkeit seiner Hypothesen

Der Bionator besteht aus einem Plastikkörper, der aus Polymethylmethacrylat (PMMA) gefertigt wird, und zwei Drahtschlaufen. Außen befindet sich der Lippenbügel mit den seitlichen Bukkzinatorschlaufen und innen der Zungenbügel. Balters glaubte, wenn die Rundung des Zungenbügels nach vorne geöffnet wäre, würde die Lage der Zunge damit in ebendiese Richtung verändert. Das sollte beim Bionator-Grundgerät zur Behebung des Rückbisses des Unterkiefers beitragen. Beim Umkehrgerät zeigt diese Öffnung dagegen nach hinten, um die Zunge und damit den Unterkiefer nach hinten umzuorientieren.

Untersuchungen der Universität Freiburg haben jedoch gezeigt, dass beide Formen des Zungenbügels weder das eine noch das andere bewirken, sondern lediglich für eine – absolut unerwünschte – Abflachung der Zungenlage sorgen. Genauso unsinnig ist die Idee, die Anwesenheit der Bukkzinatorschlaufen würde für eine „sanfte“ Verbreiterung der Zahnbögen sorgen – ohne den Einbau einer Dehnschraube ist in dieser Richtung überhaupt kein Effekt zu erwarten. Balters hat also einfach munter drauflos fabuliert, ohne sich besonders um die Nachvollziehbarkeit oder gar Nachweisbarkeit solcher Hypothesen zu kümmern.

Historische Zeichnung eines Bionators
Historische Zeichnung eines Bionators: Plastikklotz mit religiöser Ausstrahlung

Zahnspange und Alternativmedizin

Balters war ein mit dem Älterwerden zunehmend der Esoterik zuneigender Autor, der phantastische, „ganzheitliche“ Theorien über den Bionator entwickelte, für diese aber keine wissenschaftlichen Belege vorlegte. Dazu hat Balters seine Behandlungen selbst für damalige Verhältnisse schlampig dokumentiert – mit oft unbrauchbaren Modellen, dafür ohne Röntgenbilder und ohne Fotos, an deren Stelle er oft freihändige Zeichnungen seiner Patienten anfertigte. Rechtlich und medizinethisch vollkommen inakzeptabel hat Balters kieferorthopädische Behandlungen zum Teil auch an seinen Zahntechniker Geuer delegiert – aber selbst das tut seiner Verehrung in alternativ gestimmten Kreisen keinen Abbruch.

Balters Hypothesen über die Wirkungsweise des Bionators als ,,Strömungs- und Schwingungswandler“, Lymphstromregulator usw. sind freie Erfindungen ohne jede faktische Begründung. Ebenso wenig nachvollziehbar ist die Behauptung, der Bionator habe über die bekannte Aktivator-artige Wirkung hinaus einen „ganzheitlichen“ Effekt auf den gesamten Körper. Solche Aussagen können als medizinische Dichtkunst ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit eingeordnet werden.

Balters behauptete ernsthaft, seine kleinen Patienten in einem zweiten Schöpfungsakt neu zu erschaffen, ja sie überhaupt erst zu Menschen zu machen. Er meinte, dass dank seiner „Entdeckungen“ die objektiv ziemlich unwichtige Kieferorthopädie nicht nur zum wichtigsten Teil der Zahnmedizin, sondern gar der gesamten Medizin geworden sei. Wilhelm Balters kann damit zwanglos als einer der großen Schlangenölverkäufer und Märchenonkel der Kieferorthopädie eingeordnet werden. Erschütternd ist dabei, dass jahrzehntelang viele Kieferorthopäden diesen furchtbaren Unfug um eine simple Zahnspange unkritisch aufgenommen haben – und es zum Teil bis heute tun. Genau diese Mythen- und Sagenwelt, die den Bionator umrankt, ist jedoch die Grundlage für seine Beliebtheit in alternativ geprägten, meist akademisch gebildeten Kreisen. Die Vorliebe der Eltern für schlecht begründete kieferorthopädische Behandlungsverfahren bezahlen die betroffenen kleinen Patienten mit überlanger Behandlungszeit, hoher sozialer Beeinträchtigung und 30-50% Misserfolgen.

Das ist auch kein Wunder, denn in Studien zur wirklichen Tragezeit hat sich erwiesen, dass die Kinder herausnehmbare Zahnspangen – egal welchen Typs und unabhängig von den Anweisungen der Kieferorthopäden – nur 10 Stunden am Tag tragen und keine mehr. Damit lässt sich tatsächlich nicht viel erreichen!

Keine Zahnspange für Kinder von heute

Es gibt heute keine sinnvolle Indikation für den Einsatz des Bionators in der Kieferorthopädie mehr, da für alle Behandlungsaufgaben leistungsfähigere und zuverlässigere Zahnpangen zur Verfügung stehen, vor allem die festsitzenden Apparaturen. Da das Arbeiten mit dem Bionator aber weder vertiefte Kenntnisse, körperliche Anstrengung noch besonderes handwerkliches Geschick erfordert, erfreut er sich bei deutschen Kieferorthopäden ungebrochener Beliebtheit. Nicht zu vergessen ist dabei, dass herausnehmbare Apparate der Goldesel der deutschen Kieferorthopäden sind, so dass es starke wirtschaftliche Gründe gibt, diese gegen jede Vernunft weiterhin einzusetzen. Damit wird auch verständlich, warum deutsche Kieferorthopäden so vehement für den Bionator werben.

Aktueller Rat an Patienten und Eltern: Finger weg vom Bionator!

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